30. März 2022
Leser M.: Ist 70/30 noch zeitgemäß?
Leser M. schreibt
Meine Befürchtung ist die Folgende: Die russischen Streitkräfte haben gezeigt, dass sie aus den jüngsten Konflikten weltweit sehr wenig gelernt haben, Beispielsweise über die für Panzer verheerende Wirkung von modernen Panzerabwehrraketen und viele weitere Fehler machen.
Zudem hat die Reaktion des Westens wohl die Erwartungen in Moskau weit übertroffen. Putin steckt mächtig in der Klemme. Während hierzulande immer auf 142 Länder verwiesen wird, die
Russland in der UNO verurteilt haben, zeigt sich, dass durchaus gewichtige Länder wie China, Indien, Brasilien und weitere sich zumindest nicht ablehnend positionieren.
Nicht nur Indien und China dürften gerade sehr billige Rohstofflieferungen aus Russland angeboten bekommen. Diese Lage dürfte China gefallen, die Putin nun als Bittsteller
erleben und gewiss kein Interesse haben dürften, in Moskau einen Umsturz zu sehen, der womöglich zu einem westlich zugewandten Nachfolger von Putin a la Nawalni führt.
Also ist eher wahrscheinlich abzusehen, dass die Chinesen die Kriegsbemühungen der Russen unterstützen werden je länger der Krieg in der Schwebe hängt bzw. in wirklich jeder
Hinsicht eine Niederlage von Russland droht.
Dies dürfte die USA auf den Plan rufen und recht wahrscheinlich Sanktionen gegen China auslösen. Eventuell mit ähnlichen Folgen wie bezüglich Ukraine, so dass China sich dazu entschließt, wenn sowieso chinesische Aktien de-listed werden und die chinesische Wirtschaft ähnlich unter Druck gesetzt wird, wie die Russische, auf Taiwan loszugehen.
Ich verfüge über ein klassisches 70/30-Portfolio. Auf Grund der jüngsten Ereignisse reduzierte sich durch Sanktions-Abverkauf das Gewicht der Russischen Föderation im Emerging-Fonds von ca. 3,2% auf ca. 0,8%. Mal sehen, ob es zum nächsten Datenupdate 0,0% sein werden.
In meinem 70/30-Depot macht China derzeit ca. 10,2% aus, Taiwan ca. 5,4% und Hongkong ca. 0,6%. Macht zusammen ein Potential, auf Grund von Sanktionen ca. 16,2% des Depots voraussichtlich defizitär abverkauft zu bekommen. Also deutlich mehr als im Fall von Russlands 3,2% allein im Emerging-Markets-Fonds.
Während ich jahrelang stringent Buy & Hold betrieben habe, egal wie kritisch es bislang aussah, droht ein Szenario, in dem mir dies aus der Hand genommen wird und es wird politisch entschieden, abzuverkaufen, als ob ich die Nerven verloren hätte.
Wie stehen Sie dazu, wenn es nicht um die Sparrate sondern um das Angesparte geht? Ist das das Ende der Empfehlungen für ein 70/30-Depot und stattdessen besser 80/20 oder reine Marktkapitalisierung wie im Vanguard All World?
Der Finanzwesir antwortet
Als König Leonidas der Finanzblogger sage ich:
Oder, weniger martialisch mit Andre Kostolany
"Gewinn an der Börse sind wie Schmerzensgeld. Erst kommen die Schmerzen und dann das Geld."
Indexing in Kombination mit Buy & Hold bedeutet: Aussitzen.
Aussitzen, egal was kommt. Die DNA dieser Strategie ist die konsequente Akzeptanz des "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Breit rein, Automatisieren was geht (Sparplan) und dann ab zum Leben unter den Stein. Kein Radio, kein, Fernsehen, kein Internet, kein Interesse am täglichen Nachrichtenstrom.
Wie schon die Stoiker wussten
"Wir beherrschen unsere bewussten Entscheidungen und alle Handlungen, die von unserem moralischen Willen abhängen. Was wir nicht beherrschen, sind unsere Körper und all seine Einzelteile, unsere Besitztümer,Eltern, Geschwister,Kinder oder unser Land - alles, womit wir in Verbindung stehen"
Epiktet, Lehrgespräche, 1.22.10
Ein weiser Mensch weiß, was im Bereich seiner Macht steht und was nicht und der von Leser M. präsentierte Tom-Clancy-Plot ist es definitiv nicht.
Wenn es zu einem Sanktionsabverkauf kommt; gut, dann verschieben sich eben die Gewichtungen. Das ist doch das Gute an diesen Indizes. Die Gewinner werden stärker gewichtet, den Verlierern weist der Index die Tür. Auf den Trümmern des Alten wächst das Neue.
Das Alte kennen wir, da greift dann die Verlustaversion. Das Neue kennen wir nicht, deshalb entwickeln wir für das Neue auch keine Emotionen.
Und im Übrigen: Die Gewichtungen im Index ändern sich doch dauernd.
Nehmen wir den MSCI ACWI von 2011: USA rund 43 %, MSCI ACWI von 2021: USA rund 59 % (hier weitere Zahlen). In zehn Jahren von gut 40 Prozent, auf knapp 60 Prozent. Da kann man auch sagen: Klumpenbildung.
Aber das macht Indexing nicht. Indexing fragt nicht nach dem Wieso oder Weshalb, sondern spult stur sein Programm ab.
"… in dem mir dies aus der Hand genommen wird."
Wer nie etwas in der Hand hatte, dem kann auch nichts aus selbiger genommen werden. Der Buy&Holder legt sein Schicksal passiv in die Hände der Börsengötter und nimmt, was der Markt ihm gibt.
"es wird politisch entschieden, abzuverkaufen"
Wird es nicht. Weder MSCI noch FTSE haben ein Investmentkomitee, dass jetzt sagt: "Wir verkaufen." Der Index ist marktkapitalisiert. Wenn die Kurse einbrechen sinkt die Gewichtung, steigen die Kurse wieder, erhöht sich der Anteil.
Am 25. Februar 2022 schloss die Moskauer Börse. Der Russian Trading System Index (Benchmark des russischen Aktienhandels) stand bei 936,94 Punkten. Am 24. März 2022 ging’s dann weiter. Seit fünf Tagen ist der Index ganz munter im Plus. Klar, auf niedrigstem Niveau und das kann auch ganz schnell kippen. Aber dennoch, es tut sich wieder was und die Indizes werden das leidenschaftlos reflektieren.
Das ist aber doof, das will ich aber nicht. Jetzt vielleicht nicht. Aber vor Corona und Krieg war das alles ok? Buy&Hold hat nie ein Hehl daraus gemacht, wie der Hase läuft.
Was ist denn mit den anderen Kombis, die S. anspricht
Andere Kombis
70/30, 80/20 oder All World - das ist alles die gleiche Grütze. Ob da nun in der Urakine Krieg ist oder peng - das macht im Index langfristig kaum eine Delle aus. Hier verzerrt wieder einer der kognitiven Biase des menschlichen Gehirns die Wirklichkeit. Die Verfügbarkeitsheuristik sagt:
Die Ukraine ist ums Eck, Flüchtlinge kommen, unsere Energieversorgung ist gefährdet => Megakonflikt.
In einem anderen Schwellenland tobt seit Jahrzehnten ein Krieg mit zehntausenden von Toten.
Morde im mexikanischen Drogenkrieg
Jahr | Tote | Deutsche Stadt mit gleicher Einwohnerzahl |
---|---|---|
2018 | 29.000 – 36.000 | Jülich |
2019 | 34.600 – 35.000 | Bad Vilbel |
2020 | 34.515 | Balingen |
2021 | 33.410 | Uelzen |
Das sind nur die Opfer seit 2018. Jedes Jahr eine deutsche Mittelstadt ausgerottet. Die Tabelle geht zurück bis ins Jahr 2006. Zwischen uns und den Mexikanern liegt das große Wasser und die Verfügbarkeitsheuristik ist tiefenentspannt.
80/20 statt 70/30, das ist nicht die Lösung. Aber was dann?
Mitten im Rennen die Pferde zu wechseln ist meist kontraproduktiv. In guten Tagen plant man mit kühlem Kopf seine Strategie, um in schweren Tagen einen Halt zu haben. Strategie bedeutet Disziplin. Investieren besteht zum größten Teil aus preußischen Sekundärtugenden.
Disziplin schafft man, indem man eine Strategie hat, an die man wirklich glaubt. Wenn Sie wirklich an Ihre Strategie glauben, führt das zu Disziplin. Wenn Sie nicht daran glauben, haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Dann stellt sich in der Krise heraus: Man hat Annahmen getroffen hat, mit denen man dann doch nicht leben kann.
- Kein Vertrauen in die Strategie = Keine Disziplin
- Keine Disziplin = keine Gewinne
Natürlich kann S. seine Strategie überdenken. Aber das Gras ist nicht grüner auf der anderen Seite des Zauns. Wenn S. kein Buy & Hold mehr machen möchte, dann braucht er:
- Eine vermögensverwaltende GmbH, sonst ruinieren ihn die Steuern.
- Eine Matrix, die den Index ersetzt. So wie es der Finanzrocker macht. Er hat eine Matrix, in der er Firmen nach Region, Branche und Größe einteilt. In diese Matrix packt er dann Einzelaktien, um so breit diversifiziert zu investieren. Aber warum keinen ETF? Steuerliche Gründe. Wenn Sie Fonds in der GmbH umschichten, zahlen Sie deutlich mehr Steuern, als wenn Sie mit Einzelaktien arbeiten.
- Ein automatisiertes Tradingsystem mit klaren Ein- und Ausstiegsklauseln. Letztlich ist das ein Trendfolgesystem.
Das ist etwas grundlegend Anderes als breit diversifiziertes Buy & Hold. Und weil es etwas grundlegend Anderes ist, können wir auch grundlegend andere Ergebnisse erwarten.
80/20, 70/30 oder 90/10 - das sind alles nur Varianten der Einstein’schen Definition von Wahnsinn:
"Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."
Was soll S. tun?
- Schluss mit der Jagd auf Roter Oktober. Füße stillhalten.
- Wenn das nicht geht: Sparpläne dimmen, aber Kurs halten.
- Wenn das nicht geht: Mit Excel und Word eine aktive Strategie entwickeln und dabei feststellen, dass die jährlichen Steuerberatungskosten die gesamte Rendite verschlingen und dass der Aufbau einer sauber durchstrukturierten Matrix mehr Zeit in Anspruch nimmt, als man erübrigen kann und deshalb: Reumütige Rückkehr zum Buy & Hold. Manchmal muss man von zu Hause weggehen, um zu erkennen, wie gut man es hatte.
Eine Strategie, die nie schlechte Zeiten durchlebt, bringt auch keine Rendite. Schlechte Zeiten trennen die Spreu vom Weizen. Sei der Weizen, nicht die Spreu.