26. Februar 2022


Das Yin und das Yang der Börse

Es gibt an der Börse letztlich nur zwei Anlageklassen: Short Volatility und Long Volatility. In diese beiden Schubladen können Sie alles einsortieren.

  • Short ist ein Synonym für "ich leide unter". Short-Volatility-Assets leiden darunter, wenn die Kurse stark schwanken.
  • Long ist ein Synonym für "gut so, mehr davon". Long-Volatility-Assets laufen zu Höchstform auf, wenn die Börsen komplett desorientiert sind.

Chris Cole von Artemis Capital erklärt das hier in diesem Video

Wenn Sie mehr von Chris Cole lesen wollen, empfehle ich "die Allegorie vom Habicht und der Schlange" - Untertitel "Vermögen mehren und erhalten über 100 Jahre."
Vielleicht nicht schlecht, jetzt wo Ares mal wieder in Europa vorbeischaut.

Short und Long Volatility - die Tabelle

Das hier ist die tabellarische Zusammenstellung aller Aspekte, die ich in den verschiedensten Artikeln bereits beschrieben habe.

Konvergent (Short Volatility), Mediocristan* Divergent (Long Volatility), Extremistan*
Wissenschaftliches Fundament:
Effizienzmarkthypothese
Wissenschaftliches Fundament:
Verhaltensökonomie
Philosophische Sicht der Welt:
Die Welt ist klar strukturiert. Vieles ist bekannt. Risiken sind über die Zeit stabil und deshalb in großen Teilen vorhersagbar und berechenbar. Das Risiko bewegt sich innerhalb gewisser - mathematisch beschreibbarer - Verteilungen. Natürlich ist auch hier keine exakte Vorhersage möglich.
Philosophische Sicht der Welt:
Die Welt wird ab und zu heimgesucht von nicht erkennbaren und in ihrer Größe nicht bestimmbaren Risiken. Man kann Risiken bestimmen, weiß aber nie, wie präzise die Vorhersage ist.
Typisches Investorverhalten:
- Gewinne mitnehmen, jeder Gewinn bestätigt meine Berechnungen.
- Bei Verlusten den Einsatz verdoppeln, da Verluste nur temporär sein können, weil die Berechnung ja etwas ganz anderes anzeigt (Martingale-Wette).
Typisches Investorverhalten:
- Gewinne laufen lassen => Top, ich scheine beim Herumstochern im Nebel auf eine Goldader gestoßen zu sein. Also weiter machen.
- Bei Verlusten: Ausstieg, Verluste minimieren => Ich habe eh keine Ahnung, also kein Gesichtsverlust, wenn ich den Trade schließe.
Anspruch an die Strategie:
- Breit diversifiziert (Kanonenfutterstrategie: jedes einzelne Element ist unwichtig und ein Verlust fällt nicht ins Gewicht)
- Kostengünstig (im Einkauf liegt der Gewinn, Kosten schmälern direkt den Gewinn)
Anspruch an die Strategie:
- Verlässlichkeit: Wie sicher ist es, dass die Strategie in der Krise rechtzeitig anspringt?
- Konvexität: Wie asymmetrisch steigen die Gewinne in Krisenzeiten an?
- Kosten: Wie teuer ist es, die Strategie in guten Zeiten zu betreiben?
Auszahlungsprofil:
Viele kleine Gewinne, ab und zu ein heftiger bis sehr heftiger Absturz
Auszahlungsprofil:
Viele kleine Verluste, ab und zu ein großer Gewinn, bedingt durch die Art, wie die verwendeten Instrumente (Optionen) konstruiert sind. Upside: unbegrenzt, Downside: Option verfällt wertlos - Verlust des Geldes, das man für die Option gezahlt hat.
Short Liquidität
Man kauft wenig Ware für viel Geld. Assets verbrauchen Geld durch Margin Calls. Wenn Geld eh schon knapp ist, steigt der Verbrauch noch mal an.
Long Liquidität
Ein Euro im Tief kauft mehr, als ein Euro in der Hausse. Cash im Crash, das braucht man. Liefern Liquidität, wenn man sie am dringendsten braucht. So wird renditesteigerndes Rebalancing erst möglich.
Geld geht in Aktien, Anleihen, Immos, die jetzt preiswert sind.
Oder das Geld wird schlicht zum Leben gebraucht, so dass man seine ETF-Position nicht verkaufen muss.
Oder man kann als Geschäftsmann seine Konkurrenz kaufen, die nicht so gut dasteht.
Oder man investiert in neue Anlagen. Wer liquide ist, kann in der Krise wachsen. Außerdem kann man so besser schlafen.
Risk on – alle wollen Risiko, weil Risiko = Rendite,
Mentalität: Gier ist gut
Risk off – alle wollen das Risiko los werden, weil es Amok läuft
Mentalität: Wo ist mein Safe Space?
Anlageklassen verhalten sich nach dem Prinzip: Rückkehr zum Mittelwert => Stabilität, man muss es nur aussitzen Anlageklassen profitieren nichtlinear vom Wechsel. Je größer das Chaos, umso besser. Fachwort: konvex
- Markt verliert: 2 %, nichts passiert,
- Markt 10% runter, Volatilitätsstrategie liefert 5% Plus,
- Markt verliert 20 %, Vol liefert 20 %
- Markt verliert 30%, die Vol-Strategie verdient 30 - 50%.
Man darf das nicht zu eng sehen. Schon kleinste Rückgänge wegbügeln ist viel zu teuer und kleine Rückgänge behindern den Zinseszinseffekt nicht wirklich. Also: Kein Vollkasko, sondern eine sinnvolle Selbstbeteiligung.
Korrelieren mit dem wirtschaftlichen Geschehen (Long BIP) Un-oder antikorreliert zum Wirtschaftsgeschehen der Welt (Short BIP)
Offensive Defensive
Volatilität niedrig an den Börsen Volatilität hoch an den Börsen
Preisfindung an den Börsen klappt, Angebot und Nachfrage im Einklang Korrekter Preis unklar, Angebot und Nachfrage klaffen auseinander
Liquidität hoch Liquidität trocknet aus
Trends nicht sonderlich ausgeprägt Starke Trends
Produkte:
- Aktien
- Anleihen / Zinsprodukte
- Immobilien
- VC/Angel-Investments
- Private Equity
Produkte:
- Trendfolge-Fonds
- LongVol-Fonds

Die Produkte aus diesen beiden Lagern sind strukturell unkorreliert. Deshalb können sie aber trotzdem alle zusammen verlieren. Historische Beispiele: 1994 und 2004, kein Trend, keine Volatilität, Aktien- und Anleihenkurse fallend und das Ganze über mehrere Monate. Das wird auch in Zukunft immer wieder einmal vorkommen. Schließlich werden wir an der Börse für den Kontrollverlust bezahlt.

Und warum Yin & Yang?

Weil es genau passt: Yin und Yang sind zwei Begriffe der chinesischen Philosophie, insbesondere des Daoismus. Sie stehen für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene duale Kräfte oder Prinzipien, die sich nicht bekämpfen, sondern ergänzen.


* Mediocristan und Extremistan sind ein Risikokonzept von Nassim Nicholas Taleb

(awa)

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Kommentare

Sebastian B sagt am 27. Februar 2022

Hallo, vielen Dank für den Gedankenanstoß. Wieder was Neues vom Finanzwesir gelernt. :)

Aber ich habe es noch nicht ganz verstanden:
Profitiere ich mit dem Ansatz einer passiven ETF-Strategie von beiden Formen left tail / right tail, da ich beide Formen in meinem Portfolio habe? Lassen sich die bekannten Anlagestrategien (Value, Growth) hier einordnen?


Timo sagt am 08. März 2022

Moin Albert,

interessante Gegenüberstellung. Und auf intellektueller Ebene ist die ganze Alpha/Trendfolge Thematik weiterhin total spannend für mich. Aber mir fehlt immer noch der Alltagsnutzen.

Den konnten weder du noch Smartie in seinen alten Kommentaren je einwandfrei rüber bringen. "Glättung der Renditen" klingt ja schön als Werbespruch, aber wer braucht so was?
Bildlich gesprochen, wenn ich während der Fahrt schlafe, ist es mir egal, ob ich die Strecke mit dem Lift fahre oder per Anhalter durch die Serpentinen jage. Am Ende bin ich zur gleichen Zeit an der gleichen Hütte.

Also wenn weniger Volatilität der einzige Vorteil der Alphastrategien ist, dann ist mir das als Verkaufsargument zu schwach. Dann wäre den Leuten mehr geholfen, wenn sie Ignoranz vor Volatilität entwickeln. Außerdem scheint das von dir unter einem anderen Artikel beschriebene Phänomen der Fondsschließung bei zu höher Größe ein kräftiges Risiko für die breite Adaption solcher Strategie zu sein.

Haben die DemocraticAlpha-Fonds eine ausreichend lange Historie? Wenn ja würde mich mal eine Kooperation mit Georg und seinem Entnahmetool interessieren. Vom Gefühl würde ich sagen, dass weniger Drawdown 'ne höhere Entnahmerate bedeutet. Aber ob das (nach Kosten) einen Messbaren Unterschied macht, fände ich interessant zu simulieren. Das wäre dann tatsächlich ein handfester Vorteil von dem viele Profitieren würden.


Finanzwesir sagt am 09. März 2022

Hallo Timo,
Glättung der Renditen. Wer braucht so etwas?
Jeder ;-)

"Bildlich gesprochen, wenn ich während der Fahrt schlafe, ist es mir egal, ob ich die Strecke mit dem Lift fahre oder per Anhalter durch die Serpentinen jage. Am Ende bin ich zur gleichen Zeit an der gleichen Hütte."

Leider stimmt das Bild nicht ganz. Was stimmt: Das mit der gleichen Zeit. Wir haben alle nur eine begrenzte Zeit um Vermögen zu bilden. Sagen wir von 35 bis 65, also 30 Jahre, um vom Tal der Kleinsparer auf den Renditegipfel zu kommen.
Der eine legt die Strecke im Lift zurück, der andere nimmt die Serpentinen. So weit so gut.
Nur: Die Bergstrecke hat Leitplanken, die Börse nicht. Wer die Börsenserpentinen mit zu viel Schwung nimmt fliegt aus der Kurve und purzelt ein paar Serpentinen den Berg herunter und fängt von dort wieder an. So wie bei Mensch ärgere Dich nicht.
Um bei Deinem Beispiel zu bleiben: Lift ist gar nicht nötig. Serpentinen ist schon ok, nur flieg' halt nicht aus der Kurve.

"Also wenn weniger Volatilität der einzige Vorteil der Alphastrategien ist, dann ist mir das als Verkaufsargument zu schwach."

Dann gratuliere ich. Du bist ein eisenharter Hund. Für die überwältigende Mehrheit der Anleger ist das eines der Hauptverkaufsargumente. Sonst gäbe es die ganzen Garantieprodukte nicht.

"Dann wäre den Leuten mehr geholfen, wenn sie Ignoranz vor Volatilität entwickeln."

Es wäre den Leuten auch mehr geholfen, wenn sie eine Ignoranz gegenüber Zucker, Alkohol und Junk-Food entwickeln würden. Tun sie aber nicht. Menschen sind Menschen mit allen Stärken und Schwächen.

Gruß
Finanzwesir


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